Ein Beitrag von Collin Key
Wer Jakarta besucht, kann eine Stadtrundfahrt buchen, die sich wahrscheinlich völlig von jeder anderen Tour unterscheidet, die man jemals mitgemacht hat.
Sie wird von Ronny Poluan und seiner Frau Anneke Rompas angeboten und nennt sich Jakarta Hidden Tour, weil sie zu versteckten Orten führt: den Slums.

Warum gibt es die Jakarta Hidden Tour?
Natürlich weiß jeder, dass es Slumbezirke in Indonesiens Hauptstadt gibt. Aus der Ferne hat man sie auch schon gesehen. Aber Ronny und Anneke führen ihre Besucher mitten hinein.
Armut als touristisches Reiseziel? Verständlich, dass da viele zurückschrecken. Niemand will sich wie ein Voyeur des Elends fühlen.
Doch das ist man nicht auf dieser Tour. Um es in Ronnies Worten zu sagen: „Du bist nicht unser Tourist, du bist Teilnehmer an unserem 3E-Entwicklungsprojekt.“
Wobei 3E für „emergency, eduction und empowerment“ steht (Nothilfe, Bildung, Teilhabe). So gelten die 50 US-Dollar, die man für die Tour bezahlen muss, auch als Spende für das Projekt und die Menschen.
Unsere Tour dauerte etwa zwei bis drei Stunden und hinterließ viele gegensätzliche Eindrücke. Ich war beeindruckt von der Schönheit und Freundlichkeit der Menschen, und entsetzt über die Bedingungen, unter denen sie leben müssen.
Eine solche kurze Exkursion reicht nicht aus für fundierte Schlussfolgerungen. Ich werde also nicht versuchen, einen kohärenten und analysierenden Zusammenhang herzustellen.
Stattdessen werde ich in Bildern und Fragmenten einen Eindruck meiner Begegnung mit den „hidden people“ Jakartas wiedergeben.

Der Harbour Slum
Der Ort, den wir als erstes besuchen, ist einer der vielen Slums am Rande des Hafens, direkt gegenüber einem Viertel schicker, moderner Bürotürme, teurer Mehrfamilienhäuser und einer ordentlichen Schule für Kinder, deren Eltern es sich leisten können.
Ich bin zwiegespalten über dieses erste Foto – weil ich es schön finde. Aber wer sagt denn, dass es keine Schönheit in der Armut gibt?
Was das Bild aber nicht vermitteln kann, ist der beißende Gestank des Ortes.

Ronny Poluan ist nicht, wie ich angenommen hatte, Sozialarbeiter, sondern ein Künstler.
Bevor wir also überhaupt mit der Tour beginnen, sprechen wir darüber, wie Kunst mit Armut in Beziehung stehen kann.
„Wir haben einmal eine Fotoausstellung über die Slums gemacht. Wunderbare Bilder von hoher Intensität. Aber ich hatte ein unbehagliches Gefühl dabei. Das Elend der Menschen war zu etwas Ästhetischem geworden“, sagt Ronny.
Aber schau dir den Mann an, der Nägel aus gebrauchten Holzbohlen zieht. Ist das menschliche Gesicht nicht überall schön – wie eine Lotusblüte, auch wenn sie aus dem Schlamm wächst?

Was mir auffällt ist die Geschäftigkeit der Menschen, die in jeder erdenklichen Weise versuchen, etwas Geld zum Leben zu verdienen.
Ein Mann hat den Gepäckträger seines alten Fahrrads gepolstert. Er wartet auf Kunden für seine improvisierte Riksha, inzwischen jedoch meist vergeblich.
„Seit die Gojek Motorräder (eine indonesische Version von Uber) ihren günstigen Service anbieten, will niemand mehr mein Fahrrad nutzen.“
Sein Fahrrad zum mobilen Restaurant umzurüsten ist jetzt wohl ein besseres Geschäftsmodell.

Aber nicht jeder findet jeden Tag Arbeit.
Wenn sie es nicht tun, versammeln sich junge Männer in ihrem „Clubhaus“ um zu rauchen, Tee zu trinken und zu plaudern.
Der „Club“ ist ein hölzerner Unterstand mit einem alten Sofa und einer noch älteren Matratze. Ronny spricht mit den jungen Männern über Alltagsprobleme, als ein Mann auftaucht und eine leidenschaftliche Rede hält.
Ich kann dem Thema nicht folgen, vermute aber, dass es um Politik geht. Vielleicht ist dieser Eindruck aber auch nur seiner feurigen Gestik, dem Che-Guevarra-Shirt und dem Stacheldraht-Tattoo um seinen Hals geschuldet.

Als wir den Slum betreten, kommen sofort die Kinder auf uns zugelaufen, um unsere Tour zu begleiten.
Ronny und Anneke kennen fast jedes von ihnen mit Namen. Sie organisieren Englischkurse für die Kinder.
So stellt sich auch jedes der Kinder stolz vor mit den wenigen englischen Phrasen, die sie in diesen Klassen gelernt haben.

„Einmal“, so erzählt Ronny, „fragte mich ein Kollege, ein anderer Künstler, am Telefon: Ronny, was bist du jetzt, ein Künstler oder ein Aktivist?“
Er lässt offen, ob er von dieser Frage amüsiert oder eher genervt war. Für ihn hat alles ganz natürlich begonnen, wie er sagt: Mit der Begegnung mit den Menschen.
Was ist Kunst, wenn sie nicht auf Mitgefühl basiert?
Das erste, was Ronny und Anneke mir zeigten, war der Blick auf die Slums von der anderen, der reichen Seite des Hafenufers. So werden die Slums meist betrachtet – aus sicherer Entfernung.
Die Menschen wissen, dass Armut da ist, aber sie ist kaum sichtbar. Es wird ein abstraktes Problem. Das ist es, was mit „versteckt“ gemeint ist.

Ronny und Anneke helfen Menschen, sich zu treffen. Das wird die Welt nicht verändern. Aber zumindest wird man einander nicht mehr nur als abstraktes Problem begreifen. Und eigentlich ist es doch nur natürlich, dass Menschen einander begegnen.
Tatsächlich scheint es für die Bewohner der Slums noch natürlicher als für die meisten Touristen. „Ich behandle die Besucher wie meine Gäste“, sagt ein alter Slumbewohner auf einer der Tourneen in die Mikrofone einer CNN-Kamera, „und ich glaube, sie würden für mich dasselbe tun.“
Am aufgeschlossensten sind, wie immer, die Kinder. Sie lieben es, die Fremden mit den englischen Sätzen zu beeindrucken, die sie gelernt haben, und führen die Besucher fröhlich durch ihre Welt.

Geführte Touren bei getyourguide.com
Das Reformprojekt
Der nächste Ort, den wir besuchen, ist ein Reformprojekt.
Ein staubiger, offener Platz mit kleinen Häusern drumherum.
Es sieht ordentlich aus im Vergleich zum Slum zuvor, aber auch irgendwie verlassen.
Viele bunte Fahnen wurden aufgestellt, offenbar der Versuch, eine freudlose Umgebung aufzuhübschen.

„Einmal lebten 400 Familien an diesem Ort“, erklärt Ronny, „dann hat die Regierung den Slum abgerissen.“
Nur etwa 100 Familien konnten in die neuen Wohnbaracken einziehen, welche die Stadt errichtet hat. „Die anderen wurden vertrieben.“
Es ist eine Katastrophe für diejenigen, die nicht bleiben konnten. Die Leute wehrten sich gegen den Abriss. Der Widerstand blieb erfolglos.
Die Stadt treibt soziale Wohnungsbauprojekte voran. „Während (der jetzige Präsident) Widodo Bürgermeister war, haben die armen Menschen der Stadt zwei sehr positive Verbesserungen erlebt“, sagt Ronny.
„Kostenlose Schulen und medizinische Hilfe für alle.“

Es gibt jedoch einen Haken an der Sache: Dies gilt nur für diejenigen, deren Personalausweis beweist, dass sie Bewohner von Jakarta sind. Eine große Zahl ist es jedoch nicht, auch wenn sie schon jahrzehntelang in der Stadt gelebt haben.
Können sie keine neuen Ausweise bekommen? „Ja“, antwortet Ronny, „wenn sie einen legalen Wohnsitz in Jakarta haben.“ Die meisten Slumhäuser sind natürlich illegal.
Während Ronny sich ausruht, zeigt mir Anneke das Viertel. An jeder Tür spricht sie mit den Menschen, und ich sehe, wie sie einem alten Mann, der ihr von seinen aktuellen Problemen erzählt, ein paar Geldscheine in die Hand drückt.
Ein Paar winkt uns ins Innere ihres Zimmers. Der Mann singt Karaoke und beschallt damit das ganze Viertel.
Aus der Ferne sahen die neuen Häuser recht solide aus, aber von Nahem erkennt man, dass sie nur aus dünnen Holzwänden unter einem gemeinsamen Blechdach bestehen, die kleine Räume ohne Decke abtrennen.

Die Menschen haben hier noch weniger Privatsphäre als in den ehemaligen Slumwohnungen. Die Regierung hat versprochen, auf dem Platz in der Mitte moderne Häuser zu bauen.
Alle Familien müssen jetzt schon eine kleine monatliche Gebühr für das Projekt bezahlen, obwohl niemand weiß, wie lange die Realisierung dauern wird.
Die Mauer, die das Viertel vom Hafen trennt, ist allerdings schon heute mit lustigen Unterwassermotiven geschmückt.
Unter der Bahntrasse
Das Quartier am Hafen war geschäftig und lebendig, das Reformprojekt bot zumindest einen Hoffnungsschimmer auf eine bessere Zukunft. Der letzte Ort, den Ronny und Anneke mir zeigen, jagt mir dagegen einen Schauer über den Rücken.
In Kota Tua, dem historischen Zentrum und touristischen Highlight von Jakarta, betreten wir einen schmalen und düsteren Flur zwischen zwei Häusern. Am Ende gehen wir eine Rampe hinauf und stehen vor den Bahngleisen.
Entlang der Schienen reihen sich dichtgedrängt die Häuser des Slums. Die Sonne geht gerade unter, eine Frau und drei Männer sitzen vor einem Laden und genießen die abendliche Abkühlung nach einem schrecklich heißen Tag.

Eine idyllische Szene, die ich natürlich gleich einfangen will. Im letzten Moment warnt mich Ronny vor dem von hinten heranbrausenden Zug. Mit hoher Geschwindigkeit rast der quasi über die Köpfe der kleinen Gruppe hinweg.
Wir klettern ein paar Stufen hinunter und stehen in einer Höhle!
Die Menschen hier unten leben in düsteren Alkoven direkt im Fundament der Bahngleise. Ein schmutziger Gang, auf dessen Boden eine schmale Abwasserrinne entlangläuft, verbindet die Quartiere.

Ein junges Paar öffnet den Verschlag zu seiner „Wohnung“, damit wir hineinschauen können. Eine einzige Matratze füllt die ganze Fläche des Raums aus. Darauf liegen die beiden und schauen eine Sendung auf einem Fernsehschirm an der Wand.
Ich mache kein Foto; es ist zu dunkel. Oder schäme ich mich eher, in dieses winzige bisschen Privatsphäre des Paares einzudringen? Sie lächeln. Es sind nicht die Slumbewohner, die sich schämen, sondern wir, die Besucher.
Schrecklich aber sind nur die äußeren Bedingungen, die Menschen sind freundlich und liebenswürdig. In einer Filmdokumentation sagt Ronny: „Ich bewundere die Menschen, wie sie hier überleben, wie widerstandsfähig sie sind, und wie friedlich dabei in ihrem Geist.“

Nach einer Weile des Zuschauens und Plauderns mit den Menschen klettern wir aus der Höhle und stehen auf einer Brücke, die die Slumwohnungen überspannt. Und ich erkenne den Ort.
Ich war gestern hier, als ich die historische Zugbrücke fotografierte, eines der touristischen Highlights von Jakartas Kota Tua.
Und jetzt erst bemerke ich, dass ich dabei buchstäblich über den Köpfen der Armen stand, der verborgenen Realität dieser Stadt.
Ronny und Annekes Website: Jakarta Hidden Tour
Preis: 50 USD pro Person als Spende für das Slumprojekt
Spendenmöglichkeit: [email protected] (PayPal)
Mehr Infos: Von Ulf Krüger gibt es einen guten kurzen Dokumentarfilm zur Tour.
Text und Fotos: Collin Key

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